Interview

Interview mit Marcello Viotti; dem musikalischen Leiter der Neuinszenierung von Meyerbeers 'Le Prophète' an der Wiener Staatsoper (Premiere: 21. Mai 1998)
Marcello Viotti
Marcello Viotti: Der in der französischen Schweiz geborene Italiener mit Wohnsitz in Frankreich studierte Gesang und Klavier am Konservatorium in Lausanne. Durch seine Bekanntschaft mit Wolfgang Sawallisch begann Marcello Viotti seine Laufbahn als Dirigent und gründete u.a. das International Yourth Orchestra von Italien. Weitere Stationen seiner Laufbahn sind seine Tätigkeiten als künstlerischer Direktor der Oper in Luzern/Schweiz und als Generalmusikdirektor der Oper in Bremen/Deutschland Ende der Achtziger, Anfang der Neunziger Jahre. Seit 1992 ist Marcello Viotti ständiger Gastdirigent an der Wiener Staatsoper. Neben vielen anderen Engagements ist der Italiener erster Gastdirigent an der Deutschen Oper Berlin und seit dem vergangenen Jahr Chefdirigent des MDR-Sinfonieorchesters.
B.P.: Sie sind musikalischer Leiter bei der Neuinszenierung von Meyerbeers 'Le Prophète' an der Wiener Staatsoper. Wie haben Sie sich Meyerbeer genähert  ?

M.V.: Das war für mich das erste Mal, daß ich mich mit einer Oper von Meyerbeer beschäftigt habe.  Wer dirigiert heute noch Meyerbeer ? Ich kannte die Opern von Meyerbeer nicht, bis ich vor eineinhalb Jahren angefangen habe, den Klavierauszug von 'Le Prophète' zu studieren. Mittlerweile habe ich viele Bücher und viele Thesen von Musikwissenschaftlern gelesen und mich viel mit ihnen unterhalten, um diesen Mann ein bißchen mehr kennenzulernen. Es hatte ein sehr interessantes Leben, vor allem als Komponist. Der Beginn des 19. Jahrhunderts ist auch für die Weltgeschichte sehr spannend, vor allem soziologisch gesehen nach der Revolution in Frankreich. Aber auch das musikalische Leben, Rossini, Verdi, Anfang des Romantismus. Ich finde, man darf einen Komponisten nicht von seiner Zeit trennen. Das Stück selbst war hochproblematisch, weil eine neue (kritische) Ausgabe von Ricordi gemacht wurde, in der alle Stücke enthalten sind, die Meyerbeer selbst gestrichen hat und er hatte vor der Premiere ziemlich viel gestrichen. Es ist auch ein Stück, das sehr lange von 'Robert der Teufel' und 'Die Hugenotten' bis zu seiner Uraufführung gebraucht hat. Das war die dritte Grand Opéra von Meyerbeer und sie war mit einer sehr schweren Geburt verbunden. Angefangen hatte er sie 1836 zu komponieren und erst 1849 war die Uraufführung. Man vermutet, zehn Jahre lang hat er komponiert und wieder gestrichen. Natürlich ist für einen Dirigenten die Situation eine ganz andere, aber, wenn man an Don Carlos von Verdi denkt - dieses Stück ist für einen Dirigenten auch ein großes Problem. Wie macht man Don Carlos ? Selbst Verdi hat an diesem Stück gebastelt. Und so auch Meyerbeer. Man fragt sich, warum hat er zum Beispiel die Ouvertüre weggestrichen ? Man hat sie jetzt ausgegraben und sie wieder gedruckt. Hier mit den Wiener Philharmonikern habe ich sie geprobt. Ich sage ganz offen, diese Ouvertüre ist ein sehr schwaches Stück. Es entwickelt sich nichts. Wirklich. Ich habe es mehrmals gehört und bis zuletzt habe ich mit dem Bühnenorchester dieses Stück noch gespielt. Ich wollte zu mir selbst sagen können, das ist aber gut. Es gibt gute Sachen. Es fängt gut an, aber es entwickelt sich nicht so recht. Ich habe jetzt entschieden, diese Ouvertüre rauszulassen. Es hat keinen Sinn, nur für ein paar Wissenschaftler diese Ouvertüre zu spielen. Wir spielen in einem Theaterstück. Diese Ouvertüre bringt für die Musik nichts. Nach fünf Wochen Proben weiß ich, daß dieses Stück schwach ist, und ich verstehe auch, warum Meyerbeer sie gestrichen hat. Verstehen Sie ? Wenn man sich total konzentriert mit dem Stück beschäftigt, entdeckt man in der Musik unglaublich schöne Sachen. Der Meyerbeer hat das Stück wunderbar orchestriert. Es ist nicht einziges Mal die Dynamik zu korrigieren. Die Sänger kommen ganz klar durch. Man sagt immer, das ist eine Grand Opéra. Grand Opéra bedeutet nicht unbedingt, daß es bombastisch ist. Es ist sehr groß für Orchester geschrieben. Zum Beispiel vier Fagotte, vier Trompeten, zwei Pistons, zwei Trompeten, vier Hörner. Man weiß, daß es sogar mit sechs gespielt wird. Ich spiele mit vieren, das genügt. Drei Posaunen. Und vier Percussion. Orgel. 16 Fanfaren auf der Bühne. Also das ist in diesem Sinne Grand Opéra, aber die Stücke selbst, auch die großen Chorstücke, sind nicht so bombastisch orchestriert. Es ist immer sehr intelligent von Meyerbeer gemacht. Ich habe im Verlauf der Proben gemerkt, daß nicht sehr viele Retuschen zu machen sind, was eine sehr interessante Sache ist. Zum Beispiel wie in dieser Zeit ein Komponist ein zweites Thema mit einer Trompete und einer Baßklarinette komponiert, das ist genial. Die Farbe der Bassklarinette und der Trompete absichtlich zusammen in dem berühmten Krönungsmarsch bringt. Es gibt dieses Thema, erstmals mit den Geigern und dann Trompete und Bassklarinette, das ist phantastisch. Auch die Pauke ist unglaublich gut geschrieben, die Paukenstimme. Es wird zum Beispiel ein Thema dieser Oper von der Pauke alleine gespielt. Das ist interessant. Das kannte ich vorher nicht. Also dieses Stück ist in bezug auf die Orchestrierung und auf die Art für die Gesangsstimme zu schreiben, sehr interessant. Und speziell für die Mezzostimme, für Agnes Baltsa als Fidès, ist es eine extreme Rolle. Also jeder Mezzo kann von einer solchen Partie träumen. Das ist eine Partie, in der sie von Anfang bis zum Ende, abgesehen vom dritten Akt, dauernd singt und dann auch noch meist Koloratur. Das ist ein ganz extreme Rolle, aber toll.

B.P.: Und, wie würden Sie die Rolle des Jean bewerten ?

M.V.: Jean de Leyden ist für mich eine wichtige Rolle, aber die wichtigste Partie in diesem Stück ist Fidès. Das Stück wurde für Pauline Viardot geschrieben. Jeder weiß, daß das Stück nicht sofort aufgeführt wurde, weil der Maestro eine ganz präzise Besetzung haben wollte, und man hat ihm dies aus finanziellen Gründen nicht erlaubt. Und dann hat er endlich die Pauline Viardot bekommen und das war für ihn das Wichtigste, daß sie das singen konnte und sie hat die Premiere gesungen. Das Stück ist für die Mutter geschrieben. Der Mittelpunkt dieses Stückes und von dem ganzen Leben Meyerbeers war die Mutter und die jüdische Familie - seine Mutter war so omnipräsent in seinem Leben, daß in jeder seiner Oper und speziell in dieser die Figur der Mutter unglaublich wichtig ist. Der Jean hat eine Partie, die immer auf der passaggio liegt. Das ist eine sehr schwere Partie für den Tenor und speziell das Ende des dritten Aktes, wo er sehr auf der mittelhohen Lage der Stimme singt und nie eine Stelle besitzt, wo er sich ausruhen kann. Insofern ist die Partie - partia tesa sagt man im Italienischen - sehr gespannt für die Stimmlage. Der Tenor hat am Ende große Duette mit seiner Mutter und ein Terzett. Im letzten, im fünften Akt hat er sehr viel zu singen. Aber für mich ist diese Oper wirklich eine `Mezzosoprane-Oper'.

B.P.: Also würden Sie in keinem Fall  Äußerungen unterstützen, die über Meyerbeers Werke gemacht wurden, daß sie Effekthascherei und oberflächlich wären ?

M.V.: Wissen Sie, die Kritiken sind oft in seiner Zeit gekommen. Selbst von Wagner und Schumann. Aber diese Kritik ist nur natürlich. Er war ein Mann, der fünzig Jahre lang so viel Erfolg mit seinen Stücken hatte. Angefangen mit dem Belcanto in Italien, dann durch das Melodrama und die Grand Opéra. Danach sind Leute gekommen wie Richard Wagner. Aber ich habe den Eindruck, daß auch Wagner Meyerbeer mochte. Als er eine Aufführung von 'Le Prophète' gehört hatte, hat er es anschließend ganz anders orchestriert. 'Das ist ganz schlecht orchestriert, das muß man so machen' und er hat das gemacht. Wer kann das machen, wenn er das Stück nicht gerne mag ? Wer kann ein Stück mitnehmen - als Komponist - und es wieder orchestrieren, weil er es nicht gut findet ? Wenn man ein Stück nicht gern hat, macht man das nicht. Diese Geschichte von Wagner ist sehr interessant. Und ich persönlich finde, daß 'Le Prophète' ein paar Schwächen hat, aber welches Stück hat keine Schwächen ? Was mich so fasziniert, ist erstens die Geschichte und dann die Psychologie der Personen. Die Liebesgeschichte ist für mich wirklich sekundär, die Liebesgeschichte zwischen Berthe und Jean, also dem Sopran und dem Tenor, wie in jeder Oper der Welt. Sopran und Tenor lieben sich und Bariton will nicht. Also kurz gesagt, ein Lexikon der Oper, für die Leute, die die Oper nicht kennen. Die Liebesgeschichte zwischen Sopran und Tenor ist nicht so wichtig, sondern die Liebesgeschichte zwischen der Mutter und Sohn. Der Fanatismus von diesem Mann, der ein ganzes Volk dazu bringt, ihm zu folgen. Wie jeder Fanatismus. Und insofern ist dieses Stück auch heutzutage hochpräsent, weil, man muß und man soll gegen jeden, egal wie er heißt, Fanatismus kämpfen und dieses Stück spricht von diesem Thema und insofern ist dieses Stück sehr modern. Die Musik ist natürlich nicht modern, sondern die Reflektion einer Zeit. Deshalb bin ich sehr froh, daß ich so viel Repertoire in dem italienischen Belcanto und dem Melodrama gemacht habe, denn dieses Stück kommt sofort danach und man hört, daß Meyerbeer beeinflußt ist von dem Melodrama der l'ottocento italiano, von Donizetti, Bellini und vielleicht auch dem frühen Verdi.

B.P.: Könnte es sein, daß Sie, der Sie ja in der französischen Schweiz geboren sind, einen italienischen und Schweizer Paß besitzen, in Deutschland sehr viel gearbeitet haben, auch sich deshalb mit Meyerbeer so gut identifizieren können oder mit seinem Stück, da er ja eben gerade diese drei Nationalitäten, die italienische, französische und deutsche, vereint.

M.V.: Das ist interessant, was Sie sagen. Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, daß ich wie jeder meiner Kollegen bin. Wenn man ein Stück das erste Mal in die Hand nimmt und am Klavier spielt, findet man immer, oh, das ist nicht gut und das ist nicht gut. Und je mehr man mit diesem Stück zu tun hat, je mehr man Kleinigkeiten entdeckt, die uns dieses Stück lieben lassen, um so mehr mag man ein Stück. Mittlerweile habe ich dieses Stück sehr gern. Muß ich natürlich auch, denn sonst kann ich dieses Stück nicht verteidigen. Mit dem Orchester, mit den Sängern. Ich hoffe, das Publikum - das ist das große Fragezeichen - wird das Stück auch mögen. Dies ist, das Letzte und das Wichtigste.

Das Gespräch führte Birgit Popp


Opera Notes