Premierenbericht

Premiere 21. Mai 1998 Wiener Staatsoper:

Giacomo Meyerbeers 'Le Prophète'

Tosender Applaus für Agnes Baltsa und Plácido Domingo - Buhrufe für Hans Neuenfels

Das gleich vorneweg: Der erwartete Skandal blieb aus, aber dennoch stößt die Hans-Neuenfels-Inszenierung von Giacomo Meyerbeers 'Le Prohète', die Geschichte eines verführten Verführers, der als Oberhaupt und Anführer der Anabaptisten-Sekte der Wiedertäufer im westfälischen Münster des 16. Jahrhunderts für eine kurze, aber blutige Schreckensherrschaft sorgte, überwiegend auf Ablehung beim heimischen Wiener und dem aus aller Welt angereisten Opernpublikum. Die Wiener lieben ihre Opernskandale und letztendlich belebte das ganze Skandalgerede im Vorfeld das Geschäft.
Als die Premiere am 21. Mai dann ohne Skandal und ohne Proteste während der Aufführung, sondern nur mit Buhrufen für den Regisseur nach dem Fallen des Vorhangs, über die Bühne ging, blieb die Meldung auf den Titelseiten aus. Hauptstein des Anstoßes war eine geplante Sodomie-Szene mit einem goldenen Schwein, die das Klischee des Landlebens ironisieren sollte. Nun welcher Operngänger erwartet solche Szenen auf der Opernbühne ? Zwar mag der Geschmack zwischen dem deutschen Publikum einerseits und dem österreichischen und internationalen Publikum andererseits unterschiedlich sein und vor allem ein Teil des deutschen Publikums möchte ständig mit neuen Bildern und Realitätsbezug auf der Bühne unterhalten werden, aber das Publikum der Wiener Staatsoper, sei es heimisch oder zugereist, möchte nicht mit dem ständig im Alltag durch die Medien präsenten Perversitäten und grausamen Realitäten konfrontiert werden. Es geht in die Oper, um die Musik zu genießen und sich vom Alltag abzulenken. Und wie Plácido Domingo in einem Interview mit der Zeitschrift profil in bezug auf die Arbeit des Regisseures sagte, "Es geht aber nicht darum, sich selbst zufriedenzustellen, sondern das Publikum." Aber gerade dies ist auch Geschmackssache. Was dem einen zu weit geht, geht den anderen nicht weit genug.
Domingo nahm - natürlich - Einfluß auf die Inszenierung, was ja auch grundsätzlich nichts Ungewöhnliches ist. Ein Regisseur sollte ja kein Despot sein, sondern die Produktion ein Team und Neuenfels nutzte - trotz mancher kritischer Äußerung Domingos und Baltsas im Vorfeld - jede Gelegenheit zu betonen, wie sehr er die Mitarbeit und die Identifizierung der beiden Opernstars mit der Produktion schätzt.
Domingo als Jean de Leyde
Plácido Domingo als Jean de Leyde

Foto: Österreichischer Bundestheaterverband, Axel Zeininger

Meine Meinung

Was mich selbst betrifft, muß ich sagen, um so öfter ich die Produktion gesehen habe, und ich hatte dazu bereits bei der Generalprobe die Gelegenheit, um so besser gefällt sie mir - und nicht nur mir. Zu dieser Feststellung gelangten auch zahlreiche andere Personen, die die Inszenierung mehrfach gesehen haben. Nun kann man natülich fragen, ob dies Sinn der Sache ist. Aber die Ursache liegt schon in der Grand Opéra selbst, wie sie Giacomo Meyerbeer zur größten Entfaltung und zum Höhepunkt gebracht hat. Die stärkste Kritik des Wiener Opernpublikums richtete sich dahingehend, daß zuviel Bewegung und Aktion auf der Bühne sei und man von der Musik abgelenkt wäre. Ich könnte mir vorstellen, daß Meyerbeer durchaus Gefallen an der Neuenfels-Inszenierung gefunden hätte, hat er doch selbst szenische Effekte und Ballettszenen gezielt eingesetzt. Eine Premierenbesucherin, die der Inszenierung positiv gegenüber eingestellt war, stellte fest, "Es ist wie ein Musical, auch mit dem elektrischen Licht." Der Musical-Vergleich düfte die kürzeste und zugleich auch zutreffenste Beschreibung sein. Auch, wenn das von Neuenfels eingesetzte, blinkende Licht für das Auge eher störend wirkte, als daß es die Dramaturgie gefördert hätte, so zollte der Regisseur damit seine Referenz an Meyerbeer, der bei dem Sonnenaufgang am Ende des  dritten Aktes zum ersten Mal elektrisches Licht auf einer Opernbühne einsetzte.

Die Musik

Einer der Merkmale der Grand Opéra ist die Kontrastierung zwischen Massenchorszenen und Solonummern bis hin zu intimer Ausstrahlung. Dies umzusetzen, gelang Hans Neuenfels und seinem Bühnenbildner Reinhard von der Thannen mit einem herausragendem Aufgebot an Solisten (Plácido Domingo als Jean de Leyde, Agnes Baltsa als seine Mutter Fidès, Viktoria Loukianetz als seine Verlobte Berthe, Davide Damiani als den die private Katastrophe von Jean heraufbeschwörenden Le Comte d'Oberthal, Franz Hawlata, David Cale Johnson und Torsten Kerl als die drei Wiedertäufer Zacharie, Mathisen und Jonas) und einem höchst disziplinierten, hervorragend einstudierten Chor. Meryerbeers Erfolg zu seinen Lebzeiten war überwältigend gewesen. Er benötigte zwar 13 Jahre zwischen dem Beginn seiner Arbeiten an dem Propheten bis zur Uraufführung 1849 an der Pariser Oper , aber dann trat der Prophet in kürzester Zeit seinen Siegeszug durch ganz Europa und die Welt an. Bereits 1850 war die Erstaufführung in Wien. Für die Aufführung wurde eigens der Bau des neuen Hauses der Wiener Staatsoper vorangetrieben. Alleine im neuen Haus am Ring gab es in den Jahren 1869 bis 1931 256 Vorstellungen. Dann wurde der Prophet 67 Jahre lang bis zur jetzigen Neueinstudierung nicht mehr an der Wiener Staatsoper gespielt. Meyerbeer, der in vielerlei Hinsicht - auch in der Verwendung von Leitmotiven - Vorbildcharakter besaß und ein Vorbild und Gönner Wagners war, der ihn letztendlich aber mit Schmähungen überhäufte, hatte sich mit seinen pompösen Aufführungen im Zuge der neuen Sachlichkeit totgelaufen, noch bevor ihm, dem in Berlin gebürtigen Juden mit europäischer Einstellung, der seine zweite Lebenshälfte vor allem in Paris verbrachte, der Nationalsozialismus endgültig den Todesstoß gab. Zu seinen Lebzeiten wurde ihm Oberflächlichkeit und Effekthascherei vorgeworfen. Sicherlich, seine Oper wirkt in mancherlei Hinsicht fast wie ein Potpourri. Melodien, die einem in den Kopf gehen, und nicht nur dann, wenn es sich wie in den Ballettszenen um einen Walzer handelt - eine Verführung der Massen im Melodienreichtum. Für den, der große Chorszenen mag, hat 'Le Prophète' viel zu bieten. Besonders, wenn die drei Wiedertäufer Zacharie, Mathisen und Jonas, von Bühnen- und Kostümbildner Reinhard von der Thannen in phantasievoll-diabolischen Kostümen mit Punkfrisuren gesteckt, mit ihrem Choral 'Ad nos ad salutarem undam' anfangs nur begleitet von Fagott und Horn und später einsetzendem Chor und restlichem Orchester auftreten, dann kann einem in der dämonisch-faszinierenden Wirkung ein kalter Schauer über den Rücken laufen - auch in dem Bewußtsein, wie leicht es viele Sektenführer auch heute haben, die Masse zu faszinieren und zu verführen. Die bombastischen Chorszenen werden von Meyerbeer kontrastiert, wenn eine einzelne Klarinettenstimme als Vögelein frohlockt und zugleich in seiner Melancholie vom drohenden Unheil kündet. Gewalt, Leid, Freude und Glück liegen dicht beieinander in der Realität wie auch in Meyerbeers Oper. Die Tenorpartie des Jean und die Koloratur-Mezzopartie der Fidès, die von Alt bis Sopran reicht, stellen größte Anforderungen an die Interpreten. Was Plácido Domingo, der mit seinem ihm eigenen Charisma der Rolle des - teils zweifelnden - Volksverführers größte Glaubwürdigkeit verleiht, und Agnes Baltsa als würdevolle, das Individum gegenüber der Masse verteidigende Mutter betrifft, so werden die Anforderungen der beiden Partien beeindruckend gemeistert. An Inbrunst und Intensität, mit denen beide Opernstars in ihren Rollen agieren, sind sie ohnehin kaum zu übertreffen und zurecht werden sie vom Opernpublikum als Traumpaar gefeiert. Gut gefällt auch Viktoria Loukianetz mit ihrem leuchtenden und bewegenden Sopran in der Rolle der Berthe. Von den stimmlich bestens harmonierenden, drei Wiedertäufern sticht vor allem der eindringliche Baß ihres Anführeres Franz Hawlata hervor. Davide Damiani dürfte den 'bösen' Oberthal etwas mehr Schärfe verleihen.

In dem in Frankreich lebenden, italienischen Dirigenten Marcello Viotti findet Meyerbeer einen überzeugenden Interpreten, der die Wiener Philharmoniker, die Sänger und den Chor, der manchmal mehr als einhundert Stimmen umfaßt, einfühlsam und doch bestimmt und präzise führt und der detailfreudigen Orchestrierung Meyerbeers Geltung verschaftt. Von manchen Kritikern wurde angekreidet, daß Plácido Domingo die Pastorale und ein weiteres kurzes Stück von B- auf as-Dur hatte transponieren lassen, dabei wird allerdings gerne vergessen, daß die Komponisten ebenfalls häufig ihre Stücke zur Uraufführung, aber auch zu späteren Aufführugen den Sängern anpaßten. Gerade auch Meyerbeer, der die Uraufführung von Le Prohète um mehrere Jahre hinausgezögert hatte, nur weil er unbedingt Pauline Viardot-Garcia als Sängerein der Fidès für die Uraufführung haben wollte. Am Ende bekam er sie auch und der Erfolg gab ihm Recht. Was den Opernstars vergangener Jahrhunderte recht war, warum sollte es den heutigen Stars nicht billig sein? Der musikalische Gesamteindruck muß stimmen und der hat unter dem Transponieren der Pastorale für das Opernpublikum sicherlich nicht gelitten. Bedenklicher - weil die Dramaturgie stark beeinflußend - darf da schon die Umstellung im vierten Akt stimmen. Der Krönungsmarsch, eigentlich Nr. 23 und der Höhepunkt der Oper, wurde dem vierten Akt vorangestellt und bekam keine szenische Darstellung. Der vierte Akt wird dann mit dem eigentlichen Beginn, dem Chor der Bürger (Nr. 20) fortgesetzt. Der Krönungsmarsch und die Krönungsszene werden an der ursprünglich vorgesehenen Stelle ganz ausgelassen und es wird gleich zur Erkennungsszene, in der Fidès erkennen muß, daß ihr totgeglaubter Sohn der 'falsche' Prophet ist, fortgefahren. Man kann natürlich die Voranstellung des Krönungsmarsches so interpretieren, daß der gesamte, darauffolgende vierte Akt den Höhepunkt der Oper darstellt. Man kann - aber, wenn man die ursprüngliche Fassung der Oper kennt, dann fehlt eben doch etwas. Durch die Bilderflut in der Erkennungsszene bleibt das Vermissen allerdings etwas im Unterbewußtsein verhaftet. Insgesamt gab es vor allem im fünften Akt einige Striche. Die Oper wurde auf rund dreieinhalb Stunden reine Spielzeit verkürzt.

Agnes Baltsa als Fidès

Foto: Österreichischer Bundestheaterverband, Axel Zeininger

Agnes Baltsa als Fidès
Die Inszenierung

Was die szenische Inszenierung betrifft, so ist die Bilderfülle - so wohl die optische als auch die allegorische - überwältigend und zum Teil irritierend, wobei die Kulisse vor allem aus einer Tribüne besteht, auf der der Chor in unterschiedlichen Kostümen Platz nimmt. Das Bühnenbild besteht zusätzlich vor allem aus kleineren Requisiten, die entweder durch ein in der Mitte der Chortribüne befindliches Tor oder von den Bühnenseiten auf offener Bühne hinein- und herausgefahren werden. Der Chor selbst ist eine fast statische Angelegenheit, läßt man den Auf- und Abzug von der Tribüne einmal unberücksichtigt. Die eigentliche Bewegung auf der Bühne wird von einer Unzahl von stummen Rollen übernommen. Allen voran von den drei Affen, die in einer Szene das Bild 'Nichts hören, nichts sprechen und nichts sehen' darstellen und als Schergen der drei Anführer der Wiedertäufer agieren. Ihre akrobatisch-pantomimische Darstellung ist eine schauspielerische Meisterleistung, die sie allerdings nicht davor bewahrt, daß die meisten Opernbesucher ihre Existenz ablehnen. Daneben gibt es eine Anzahl von rund 30 schwarzgekleideten 'Untermenschen', die z.T. als Spastiker kopfschüttelnd (vermutlich über ihre eigene Rolle) und zuckend dargestellt werden und die als Soldaten der Wiedertäufer agieren, wenn sie nicht nur schlichtweg herumstehen. Neuenfels will das Problem der Sektenbildung und Verführung der Menschen zeitlos darstellen, was er auch in den Kostümen vollzieht. Da treten Oberthal und seine Soldaten im 30er-Jahr-Look auf, während der Chor im ersten Akt aus bürglichen Gestalten des 19. Jahrhunderts besteht, aber ebenso griechische Figuren auftauchen und nur in Lendenschurz gehüllte Bauern, deren Kinderchor bei der Erkennungsszene fast wie kleine Sumo-Ringer aussieht (Lacherfolg gewollt oder ungewollt ?). Die Farbkompositionen sind allerdings sehr beeindruckend. Daß es auch bei den Wiedertäufern, die sich die Befreiung der unterdrückten Bauern und Leibeigenen im 16. Jahrhundet im Zuge der lutherischen Reformation verschrieben hatten und damit nur eine neue Schreckensherrschaft gründeten, dieses Mal gegen Bürgertum und Adel, keine Gleichheit, sondern erneut 'Untermenschen' gibt, zeigt Neuenfels in der Verprügelung eines Negers durch die drei Affen, der zuvor die unterdrückten Bauern bedient hatte. Wie brutal die Wiedertäufer einerseits vorgehen und wie brutal der Krieg ist, wird recht drastisch im dritten Akt dargestellt. Der allerdings auch einige - wie alle anderen Akte - Lächerlichkeiten bietet. Von Ironie kann man wohl kaum noch sprechen, wenn Tafeln mit Texten durchs Bild getragen werden, mit Wortlauten wie 'Ab und zu kann ich nicht anders, als meine kleine Geschichte zu erzählen/ ..., als meinen Schmerz hinauszuschreien/...., als eine Stille zu hören', Sätze, die im Libretto keinen direkten Bezug besitzen. Ein beabsichtigter Lachefolg ist dagegen das im dritten Aktes auftretende (ehemalige Schlittschuhläufer-) Ballett. Zum Kriegsgeschehen durchaus passend tritt es als Ballett von Krankenschwestern und Ärzten mit einer sehr gelungenen Choreographie in Erscheinung.
Die Universalität des Themas Sekten bzw. der innigen, fast inzestiösen Mutter-Sohn-Beziehung will Neuenfels mit der Eingliederung von Negerhütten in die Kathedralsszene unterstreichen, den Gegenwartsbezug im fünften Akt mit einem Zimmer im Stil der 50er Jahre inklusive eines (Farb -!)Fernsehers, über den Kriegsbilder flimmern, und mit Robotern statt eines Chores herstellen. Aber die Übertragung der im aufklärerischen Gedankengut behafteten Oper Meyerbeers auf heutige Zeiten würde dem Zuschauer auch ohne diese vom Regisseur vorgegebene Zeitreise gelingen. Wie innig die Beziehung ist zwischen Sohn und Mutter, die ihrem Sohn alle Untaten und Greuel vergeben hat, manifestiert sich, wenn Jean seiner Mutter kurz bevor er sich (entgegen der historischen Wahrheit, in der er nach langer Folter hingerichtet wurde) gemeinsam mit seiner Mutter in die Luft sprengt, ihr aber zuvor noch den Brautschleier umhängt.
Zwar zeigt Neuenfels mit zahlreichen Allegorien, was seiner Meinung nach Meyerbeer ausdrücken wollte, im Grunde drängt er damit aber dem Zuschauer seine Meyerbeer-Interpretation auf, ohne ihm Spielraum für die eigene Phantasie zu lassen. Weniger wäre manches Mal mehr. Mehr dürfte es jedoch bei der Schlußszene sein. Was bei Meyerbeer in der Explosion des Palastes endet, kommt bei Neuenfels nur als kurzes Erleuchten des Zuschauerraumes vor, wenn Jean den Sprengsatz zündet. Eines muß man Hans Neuenfels durchaus zugestehen, er hat sich sehr intensiv und phantasievoll mit der Grand Opéra Meyerbeers auseinandergesetzt. Die Beweglichkeit und das Tempo der Musik spiegelt sich in der szenischen Darstellung wieder.

Birgit Popp

Weitere Vorstellungen: 7., 12. Oktober (Baltsa, Ivan; Lotric, Kövers, Johnson, Kerl, Gáti) und am 8., 12., 15., 19. Dezember 1998 (Urmana, Ivan; Lima). Bei allen Vorstellungen wird Marcello Viotti dirigieren. (Alle Angaben sind ohne Gewähr. Änderungen vorbehalten.)
 

Nachfolgend einige Auszüge aus dem im Programmheft der Wiener Staatsoper erschienen Gespräch von Leo Karl Gerhartz mit Hans Neuenfels:

[...] Genau, das [die Fragen von höchster Aktualität] ist für mich eine ganz wichtige Sache. Ich möchte nicht mit einer Oper aktualisieren ! Das finde ich furchtbar. Eine Darstellung mit Fundamentalisten auf der Bühne, das Stück als Reportage von Vorgängen unserer Zeit, z.B. als Paraphrase der Geschichte der RAF, das wäre ganz sinnlos. Aber was ich, auch für das Publikum, total spannend finde, ist, wie eine Musik es schafft zu verlängern, sich von einem historisch klar definiertem Empfinden weiterzuspannen bis hinein in unsere Jetzt-Zeit.

 [...] Die Raffinesse in der inneren Struktur der Figuren steckt in der Ausstattung mittendrin. Die Ausstattung ist keine inhaltslose Sache, die Bühne und die Kostüme spielen vielmehr für die Psychologie eine sehr genaue Rolle. Das Außen ist mit dem Innen innigst verbunden. [...] Die Art, wie Meyerbeer komponiert, hat viel mit der Herstellung einer Inszenierung zu tun, nicht in einem entleerten, sondern in einem sehr bewußten Sinn. Die Effekte sind Mittel der Darstellung, das aber heißt die Grand Opéra braucht das Szenische, das Darstellerische, die Ausstattung konstitutiv. Die ästhetische Qualität all dieser Momente ist deshalb auch von ganz entscheidender Bedeutung. Denn es geht auf allen Ebenen auch um sichtbare dramaturgische Signale. Unser Ausstatter, Reinhard von der Thannen, hat da Wege gefunden, die sofort erkennbar machen, wie die Entwicklung des Einzelnen und der Masse verläuft.

[..ohne Ausstattung kein Meyerbeer ?] So kann man das schon sagen, weil die Zeichen und Signale Bestandteil der musikalischen Inhalte sind. Sicher hat es auch mit Meyerbeers jüdischer Herkunft zu tun. Ein geniales Be- und Umspielen der schwierigsten Probleme. Seine Musik erdrückt nicht, dogmatisiert nicht, ist wach und sehnig. Ein wahrhaft europäischer Jude, ein Höhepunkt des Empfindens, Begreifens und Gestaltens labyrinthischer Bezüge, denen er nachspürt mit Klarheit, Verwunderung und einer Anteilnahme an den Brüchen und Verwirrungen der Personen.

[Der Prophet gilt zur Zeit als vergessene Oper. Man kennt das 'Schlittschuhläufer-Ballett' und den 'Krönungsmarsch'. Welche Bedeutung haben diese 'Hits' in Ihrer Inszenierung ?] Eine erhebliche. Das 'Schlittschuhläufer-Ballett' ist für mich eine bösartige Farce, wie sich Gesellschaft ländliche Idylle vorstellt. Beim 'Krönungsmarsch' geht es um den unheimlichen und beängstigenden Eindruck, der von jeder gleichgeschalteten Masse ausgeht. Man soll erschrecken darüber, daß soviel Gleichmacherei möglich ist.

[Was wollen Sie insgesamt mit Ihrer Inszenierung erreichen ?] Meyerbeers Prophète ist ein Aufklärungsstück. Es geht um die radikale Beobachtung von sich selbst. Die eigentlichen Fragen sind: Wie lebe ich, wie kann ich leben in der Gesellschaft ? Wie realisiere ich mich und wo liegen die Möglichkeiten, ein Leben so aufzubauen, daß ich nicht nur Objekt bin von Parolen, von Medien, von Öffentlichkeit oder auch von der eigenen Illusion, man hätte sein Leben in der Hand und könne es allein von sich heraus gestalten ? Es wird die Glaubwürdigkeit von Glauben untersucht, und zwar von jedwedem Glauben. [...] Wie kann ich meine Existenz finden, ohne einen so starken Fremdeinfluß, daß ich mir nie richtig selbst gehört habe ? An Ende bleibt in der Parabel, die das Stück natürlich auch ist, nichts übrig nur eine Warnung.

Birgit Popp


Opera Notes